Hintergrundinformationen zum Film

Wilhelm Waibel, Pionier der Aufarbeitung und Aussöhnung

Sogar der Birnbaum wurde gefällt, an dem der junge Arbeiter aus Polen gehängt wurde. So erzählen es die Leute im Dorf, wenn man sie zum Reden bewegen kann. Bis dahin ist es aber ein langer Weg. Wilhelm Waibel (geboren 1934) ist einer der regional Forschenden, der sich vehement für die Aufarbeitung der NS-Geschichte - insbesondere der Zwangsarbeiter im zweiten Weltkrieg - einsetzte. Ohne akademische Ausbildung zum Historiker fügte er mit seinen Recherchen ein wichtiges Mosaik-Stück zur Aufarbeitung dieses NS-Kapitels hinzu, das in der BRD erst ab den 80er Jahren wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Sowohl der zum Teil heftige Widerstand vor Ort insbesondere der regionalen Archive, das beharrliche Schweigen der beteiligten Institutionen und Firmen, als auch die Anfeindungen aus der Bevölkerung begleiteten Wilhelm Waibel ein Leben lang. Das ist ein Phänomen, das nicht nur er in seiner südbadischen Heimatstadt erlebte, sondern viele Privatforschende der ersten und zweiten Generation der NS-Aufarbeitung teilen. Als Leiter der EDV-Abteilung einer der Singener Großbetriebe, ging er allerdings ein nicht geringes Risiko ein, erforschte er doch auch - teilweise inkognito - die Vergangenheit seines Arbeitgebers.

Wilhelm Waibel im Archiv der Georg Fischer AG
Parade und Jungmädel
BDM-Aufmarsch
Fot.1 — Wilhelm Waibel im Archiv der Georg Fischer AG.
Fot.2-3 — Parade und Jungmädel/BDM-Aufmarsch, 1930er Jahren u.a. Singen (perspectusfilm, Stadtarchiv Singen)

Wilhelm Waibels Verdienst weist aber über die rekonstruierende Geschichtsarbeit hinaus. Seine Jahrzehnte lange Suche nach den betroffenen Menschen der Zwangsarbeit stellt eine besondere Pionierleistung dar. Als vermutlich Erstem gelingt ihm - als aus der Bundesrepublik agierenden Privatperson – noch vor dem Fall der Berliner Mauer in der noch bestehenden Sowjetunion einen nachhaltigen Kontakt zu den Zwangsarbeitern direkt aufzubauen. Zusammen mit dem Juristen und Journalisten Wasilij F. Koteljar (geb. 1931) gründet er die erste Zwangsarbeiter Vereinigung in der jetzt unabhängigen Ukraine. Über mehrere Jahrzehnte und in vielen Reisen baut er auch die Städtepartnerschaft Singen-Kobeljaki (Zentralukraine, Oblast Poltava) auf und engagiert sich mit Hilfslieferungen und der Reparatur des dortigen Krankenhauses. Ihm gelingt auch, dass ehemalige Firmen, die von der NS-Zwangsarbeiterschaft profitierten, sich an dieser Aussöhnungsarbeit praktisch beteiligten. Zum 100 jährigen Firmenjubiläum der Georg Fischer AG sind ehemalige Zwangsarbeiter zum Festakt eingeladen. Eine bewegende Begegnung auf beiden Seiten.

Wasilij F. Koteljar
Wilhelm Waibel mit Wasilij F. Koteljar und Veteranen der Roten Armee (Privatarchiv Wilhelm Waibel).

Wilhelm Waibel weicht keinen Konflikten aus. Einer der für ihn bewegendsten Momente ist die Konfrontation mit Vertretern der Veteranen-Organisationen, die von ihm wissen möchten, warum die deutschen Soldaten mit christlichem Glauben, die Menschen in Europa so schamlos überfallen haben. Die Begegnungen mit den Menschen, deren Schicksale von den Ideologien des 20. Jahrhunderts gleich mehrfach zerrüttet wurden, sind das Kernstück des Films.

Hintergründe der Recherchearbeit

Zum ersten mal gelingt es, mit der Firma Maggi (seit 1947 Teil der Nestlé) ein Gespräch vor der Kamera zu den Fragen zu führen, wie der Konzern mit der Verantwortung gegenüber der Firmen-Vergangenheit in der Phase des Nationalsozialismus umgeht. Bereits davor wurde in dem Abschlußbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg (die sogenannten Bergier commission) die Verstrickung der Maggi in die Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus beschrieben. Für Wilhelm Waibel bot dieser Tag die Möglichkeit, seine Erfahrung der Zurückweisung und verweigerten Archivzugängen direkt an Firmenverantwortliche zu adressieren.

Neben der Suche nach weiteren Hintergründen der beteiligten Singener Firmen, standen die Schicksale der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen im Vordergrund. Unzählige Briefe finden sich im Privatarchiv von Wilhelm Waibel, das in Zukunft dem Stadtarchiv Singen übergeben werden und online zugängig sein soll. Neben dem Schicksal der Verschleppung und Zwangsarbeit, interessierte uns auch die Behandlung der Zwangsarbeiter nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion. Trotz anfänglich großer Schwierigkeiten fanden wir in den Archiven der Ukraine 1000 Aktenblätter der Filtrationsakten des ehemaligen KGBs zu unseren Protagonistinnen. Dank der guten Koordinierung mit polnischen Stellen gelang es, die letzten noch lebenden Zwangsarbeiter, die in Singen als Kinder gearbeitet haben, zu finden und für den Film zu befragen.

Archivmaterialien u.a. aus KGB-Archiven zu NS-Zwangsarbeiterinnen

Die Fragen an die Überlebenden

Der Film wirft auf der individuellen Ebene der Betroffenen viele Fragen auf und es ist vielleicht die letzte Chance Ihre Erinnerung auf Film festzuhalten: Wie haben die damals jungen Frauen, die aus den ukrainischen Dörfern ihrer Heimat verschleppt wurden, den Alltag in Deutschland erlebt? Wie lief diese Zwangsrekrutierung ab und wie setzte die Wehrmacht geschickt einheimische Kräfte ein? Wie kommt ein Kind, das bei der Aktion Zamość der Wehrmacht in Polen (eine der wenigen Umsiedlungsverfahren im „Himmlerschen Sinne“) verschleppt wurde, mit der Arbeit in den Lagern der Zwangsarbeiter klar? Welche Zwischenaufenthalte in anderen Konzentrationslagern hat die Familie dabei überlebt? Wie finden sie Komplizen und Helfer in den Fabriken und auf den Bauernhöfen, welcher Lebensgefahr waren sie ausgesetzt? Wie haben Sie die Befreiung erlebt? Und wie denken Sie generell heute über die Erfahrungen nach, was ihnen in Deutschland in ihrer Jugend widerfahren ist. Übergreifende historische Aspekte laden zu verschiedenen Diskussionen ein. Fragen nach der „doppelten Verfolgung“ der Zwangsarbeiterinnen aus der Sowjetunion, die sich als heimkehrende „Ostarbeiter“ 1945 einer intensiven Befragung und Überwachung konfrontiert sahen. Wollten sie in gewissen Firmen tätig sein, mussten manche ihre Biografie fälschen. Viele Geburtsurkunden ihrer in Deutschland geborenen Kinder wurden mit einem anderen Geburtsdatum versehen.

Aber auch auf polnischer Seite bleiben Fragen offen. Für welches Schicksal haben sich die polnischen Zwangsarbeiter 1945 entschieden? Sie waren in einer anderen Situation als die Arbeiter aus der Sowjetunion, denn sie hatten meist die freie Wahl, im Westen zu bleiben, entschieden sich aber auch, nach Polen zurück zu kehren. Welchen Stellenwert nimmt der Blick auf den Zweiten Weltkrieg in unserem sich zunehmend spaltenden Nachbarland ein? Geschichtspolitik wird zunehmend ein Feld von Konflikten auch unter den ehemaligen von der Wehrmacht überfallenen Ländern. Die Befragten verbanden mit den Interviews den Wunsch, auch etwas über Europa heute und ihrer Situation angesichts des Krieges in der Ukraine zum Ausdruck bringen zu können.

Dieses Stück europäischer Verflechtungsgeschichte, wird in Zukunft immer wichtiger werden. Denn Geschichtsschreibung ist kein homogener Prozess. Der unterschiedliche Blick, den die Beteiligten in unterschiedlichen Ländern auf die gemeinsame Geschichte haben, muss immer wieder neu reflektiert werden, damit nachfolgende Generationen in einem sinnvollen Dialog darüber bleiben.

Nicht alle haben den Zweiten Weltkrieg und die Verschleppung nach Deutschland überlebt. Das beschäftigte Wilhelm Josef Waibel ein Leben lang. Er berichtet vom Schicksal das ein deutsch-polnisches Liebespaar auf dem Bauernhof in Watterdingen, unweit der Grenze zur Schweiz ereilte. Er recherchierte dazu vor allem in Kirchenarchiven, denn die Pfarrer mussten nach 1945 Bericht darüber ablegen, was in ihren Gemeinden geschah. Zu dem Fall in Watterdingen ließ sich aber kein Bericht finden. Waibel beschäftigte über Jahre, wie die Dorfgemeinschaft die Geschichte über Jahrzehnte zu vertuschen versuchte.

Ein zentraler Punkt bleibt die Verantwortung der Industrieunternehmen zur Zeit des Nationalsozialismus. Wie stehen sie heute zu ihrer Geschichte? Was waren die Umstände, warum die Schweizer Maggi-Fabrik im Nationalsozialismus für die Wehrmacht in Singen (aber auch in Polen und der Ukraine) produzieren ließ, und warum tut sich die Firmen-Nachfolgerin Nestlé, die die Maggi 1947 übernommen hat, so schwer mit der Aufarbeitung?

Ein Grund: Als ausländisches Unternehmen sah sich das Schweizer Maggi-Werk zu Beginn der NS-Herrschaft einer Propaganda der deutschen Konkurrenz ausgesetzt, so dass die Firmenleitung sich für eine Anpassung an die NS-Leitlinien entschloss. Die Maggi wurde so der erste „nationalsozialistische Musterbetrieb“ in der Region. Lange wurde bestritten, dass man sich an der Expansion der neu eroberten Gebiete in Osteuropa beteiligt hatte. Den Rechercheuren in Kyiv gelang es Firmenakten zu finden, die die Existenz der Firma im Reichskommissariat Ukraine belegen. Zuvor hatten Schweizer Historiker im Zusammenhang des Bergier-Berichts aus der Firmenkorrespondenz auch Pläne für den Rückzug in das Gebiet Polens offen gelegt. Weiterführende Unterlagen aus der damaligen Maggi-Administration in Berlin fielen aber den Bombenangriffen auf die Stadt zum Opfer.

Maggi Sporttribüne
Sommersporttag der Betriebsgemeinschaft Maggi (Der Arbeitskamerad, 1940)

All das ist Geschichte, bereitet aber den Firmen bis heute Mühe, diesen Teil ihrer Firmengeschichte anzuerkennen. Bis heute gibt es sehr große Unterschiede im Umgang mit den jeweiligen Firmengeschichten in der Bundesrepublik. Diese Unterschiede zeigen sich auch in der Heimatstadt von Wilhelm Waibel. Die zweite Großfirma in Singen, die ehemaligen Aluminiumwalzwerke, die im großen Stil für die Wehrmacht arbeitete, verweigern bis zum Schluss der Dreharbeiten jegliche Anfrage im Zusammenhang mit diesem Film zu beantworten. Es bleibt unter anderem ungeklärt, ob der Bestand der Zwangsarbeiterakten, die nach 1945 immer wieder erwähnt wurden, in den letzten Jahren vernichtet wurden. Das es ganz anders gehen kann, zeigt die Georg Fischer AG, die in vorbildlicher Weise das Kapitel der Firmengeschichte von 1930-1945 von dem Historiker Hans Ulrich Wipf aufarbeiten ließ und als Buch publizierte (siehe Literaturhinweise).

Der schwierige Weg der Entschädigung

Die Fragen zu Entschädigungszahlungen der NS-Zwangsarbeiter hat dieser Film bewusst ausgeklammert. Mit ein paar Sätzen wird man der Komplexität des Themas, den Bemühungen aber auch den Problemen der Entschädigung und Auszahlung nicht gerecht. Mit welchen Mühen dieses Thema verbunden ist, zeigt sich auch in der Arbeit von Waibel, der aus diesem Grund unerwartet zu einem sehr gefragten Mann wurde; was in unserem Dokumentarfilm nur andeuten. In den Jahren um die Jahrtausendwende erreichten Wilhelm Waibel unzählige Anfragen ehemaliger Zwangsarbeiter, vor allem aus verschiedensten Teilen Osteuropas insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Betroffenen wollten wissen, ob Waibel noch Unterlagen in Deutschland für sie finden könne, die ihnen eine Entschädigungszahlung ermögliche. Denn ohne Nachweis, keine Entschädigung. Viele Beteiligten, vor allem in der Sowjetunion hatten nach 1945 angesichts der Befragungen des NKWDs und späteren Kontrollorganen, ihre Papiere aus Deutschland vernichtet. Schnell sprach sich bis Moskau herum, dass es in Singen jemanden gäbe, der bei der Beschaffung von Unterlagen helfen könne. Wilhelm Waibel nahm sich der Sache an und schrieb Jahre lang unermüdlich Briefe an Behörden und Personalabteilungen von Firmen in Deutschland. Selbst in Krankenhaus-Kellern wurden Aktenbestände aus den Jahren 1943 bis 45 durchgesehen, immer auf der Suche nach einem Beleg, der zeigt, dass die Betroffenen irgendwo aktenkundig sind. Eine Arbeit, über deren Ausmaß man sich keine Vorstellung macht. Daran erinnern sich heute nicht viele. Auch das möchte dieser Film ändern.

So wie ich Wilhelm Waibel kennen gelernt habe, geht es ihm um die ehrliche Aufarbeitung auch der eigenen Biografie. Er hat keine Scheu, seine damalige Begeisterung in der Hitlerjugend in Vorträgen vor Schulklassen anzusprechen. Nicht selten überrascht er dabei so manchen Oberstudienrat. Bis heute ist er aktiv an der Geschichtsvermittlung beteiligt und berichtet in Vorträgen auch über die Bombardierung der Stadt Singen. Selbst mit dem Piloten, der die Bomben auf seine Heimatstadt an Weihnachten 1944 abgeworfen hat, führte er Briefverkehr.

Für diese Erinnerungsarbeit hat sich in Singen über die Jahre ein Ort herauskristallisiert, für den sich Wilhelm Waibel ebenfalls ein Leben lang eingesetzt hat: Die Theresienkapelle Singen. Wo heute diese Kapelle steht, standen damals Zwangsarbeiterlager, die später die französischen Besatzungstruppen nutzten, um NS-Funktionäre zu inhaftieren. Hier nahm die Geschichte um Waibels Geschichtsarbeit ihren Anfang, als er als Ministrant regelmäßig auf das Gelände kam. Und hier nahm auch der Film seinen Anfang, den die Vorsitzende des Fördervereins Theresienkappele e.V. Dr. Carmen Scheide, initiierte.

Ausweis für (polnische) Opfer des Dritten Reiches
Ausweis für (polnische) Opfer des Dritten Reiches HJ am Hohentwiel und Familienaufstellung im Hegau (perspectusfilm, Stadtarchiv Singen)

Zwischen 2014 und 2018 wurde dieser Film in Singen, dem Hegau, Polen und in der Ukraine produziert. Die preisgekrönten Kameramänner stammen ebenfalls aus allen drei Ländern: Oleksandr Techynskyi, Tomasz Deblessem und Johannes Laidler haben mit ihrer Bildgestaltung maßgeblich dazu beigetragen, den zum Teil über 90 jährigen letzten Zeugen mit Würde und aller gebotenen Sensibilität zu begegnen und ihr Vermächtnis für die jüngere Generation mit Nachdruck festzuhalten. Die zum Nachdenken anregende, lakonische Musik stammt von Yuriy Gurzhy, einem ausgesprochenen Fachmann für osteuropäische Musik.

Für Willi Waibel geht der Kampf um die Fragen der Aufarbeitung weiter. Er setzt sich in seiner Heimatstadt für ein kritisches Gedenken dieses Geschichtskapitels ein. Das passt nicht jedem . Der Film versucht, diese Grauzone zu zeigen und besser verständlich zu machen, wie schwierig dieser Weg für ihn war. Der Film versteht sich weniger als Portrait, sondern als Hommage gegenüber einem mutigen Mann und seinem schwierigen Weg.

Weiterführende Informationen zum Thema der NS-Zwangsarbeit und der Aufarbeitung zur NS-Geschichte der Singener Industrie

Weiterführende Literatur:

  • Wilhelm J. Waibel, Schatten am Hohentwiel, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Singen. Die 1. und2. Auflage ist vergriffen, eine 3. Auflage soll bis Ende 2020 erscheinen.
  • Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, J.H.W. Dietz –Verlag, Bonn 1999
  • Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, DVA 2001
  • Hans Ulrich Wipf, Ein Schweizer Industrieunternehmen im Spannungsfeld Europas, Chronos Verlag, Zürich 2001
  • Myriam Rais-Liechti, Roland Peter, Christian Ruch, Geschäfte und Zwangsarbeit Schweizer Industrieunternehmen im «Dritten Reich», Unabhängige Experten-kommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Chronos Verlag, Zürich 2001 (zur Maggi und Nestle ein sehr lesenswertes Kapitel in diesem Band der UEK)
  • Cornelia Rauh, Schweizer Aluminium für Hitlers Krieg? Zur Geschichte der Alusuisse 1918-1950, C.H.Beck 2009

Weiterführede Informationen für Recherche und Unterricht: